Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe
"Das Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert jedem den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Damit wird sowohl der Zugang zu den Gerichten als auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleistet. Der Bürger hat einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanze<ref>(vgl. BVerfGE 40, 272 [275]; 113, 273 [310])</ref>, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich um Eingriffe in geschützte Rechtspositionen oder die Versagung gesetzlich eingeräumter Leistungsansprüche handelt<ref>(vgl. BVerfGE 31, 33 [39 f.]; 46, 166 [177 ff.]; 60, 253 [297 f.]; 79, 69 [74]; 116, 1 [11 f.])</ref>. Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Das schließt eine Bindung der rechtsprechenden Gewalt an tatsächliche oder rechtliche Feststellungen und Wertungen seitens anderer Gewalten hinsichtlich dessen, was im Einzelfall rechtens ist, im Grundsatz aus<ref>(vgl. BVerfGE 15, 275 [282]; 61, 82 [110 f.]; 84, 34 [49]; 84, 59 [77]; 101, 106 [123]; 103, 142 [156])</ref>.
Die materiell geschützte Rechtsposition ergibt sich allerdings nicht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG selbst, sondern wird darin vorausgesetzt<ref>(vgl. BVerfGE 61, 82 [110]; 78, 214 [226]; 83, 182 [194 f.]; 84, 34 [49]; stRspr)</ref>. Neben den verfassungsmäßigen Rechten bestimmt das einfache Recht, welche Rechte der Einzelne geltend machen kann. Der Gesetzgeber befindet unter Beachtung der Grundrechte darüber, unter welchen Voraussetzungen dem Bürger ein Recht zustehen und welchen Inhalt es haben soll<ref>(vgl. BVerfGE 78, 214 [226]; 83, 182 [195]; 113, 273 [310]; 116, 1 [11 f.])</ref>.
Beruht die angefochtene Entscheidung auf der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, so ist deren Konkretisierung grundsätzlich Sache der Gerichte, die die Rechtsanwendung der Verwaltungsbehörden uneingeschränkt nachzuprüfen haben. Die Regeln über die eingeschränkte Kontrolle des Verwaltungsermessens gelten nicht ohne weiteres auch für die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe<ref>(vgl. BVerfGE 7, 129 [154]; 64, 261 [279]; 84, 34 [49 f.])</ref>. Dies schließt nicht aus, dass bei der Kontrolle der Verwaltung deren Eigenverantwortung Rechnung getragen und die gerichtliche Kontrolle – wie etwa im Planungsrecht – als eine nachvollziehende Kontrolle ausgestaltet wird.
b) Soweit allgemeine Verwaltungsvorschriften die einheitliche Rechtsanwendung durch die Behörden für diese verbindlich regeln, ändert auch dies nichts an Umfang und Intensität der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebotenen gerichtlichen Kontrolle. Verwaltungsvorschriften, mit denen die Verwaltung einen einheitlichen Verwaltungsvollzug bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe oder bei der Ausübung des Verwaltungsermessens sicherstellen will, sind grundsätzlich Gegenstand, nicht jedoch Maßstab richterlicher Kontrolle des Verwaltungshandelns<ref>(vgl. BVerfGE 78, 214 [227])</ref>. Denn die Gerichte sind bei der Überprüfung des Verwaltungshandelns an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG).
Es beeinträchtigt indes weder die Gesetzesbindung der Gerichte noch den Anspruch des Einzelnen auf wirksame gerichtliche Kontrolle nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, wenn die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch gesetzliche Verweisung auf bestimmte Verwaltungsvorschriften oder sonstige untergesetzliche Regelwerke erfolgt oder wenn die konkretisierende Heranziehung solcher Vorschriften oder Regelwerke in vergleichbarer Weise auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht.
c) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes schließt nicht aus, dass durch den Gesetzgeber eröffnete Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume sowie die Tatbestandswirkung von Exekutivakten die Durchführung der Rechtskontrolle durch die Gerichte einschränken<ref>(vgl. BVerfGE 15, 275 [282]; 61, 82 [111]; 84, 34 [50 ff.]; 88, 40 [56]; 103, 142 [157]; 113, 273 [310])</ref>. Gerichtliche Kontrolle kann nicht weiter reichen als die materiellrechtliche Bindung der Instanz, deren Entscheidung überprüft werden soll. Sie endet deshalb dort, wo das materielle Recht in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise das Entscheidungsverhalten nicht vollständig determiniert und der Verwaltung einen Einschätzungs- und Auswahlspielraum belässt<ref>(vgl. BVerfGE 88, 40 [61]; 103, 142 [156 f.]; 116, 1 [18])</ref>.
Ob dies der Fall ist, muss sich ausdrücklich aus dem Gesetz ergeben oder durch Auslegung hinreichend deutlich zu ermitteln sein. Demgegenüber kann es weder der Verwaltung noch den Gerichten überlassen werden, ohne gesetzliche Grundlage durch die Annahme behördlicher Letztentscheidungsrechte die Grenzen zwischen Gesetzesbindung und grundsätzlich umfassender Rechtskontrolle der Verwaltung zu verschieben. Andernfalls könnten diese "in eigener Sache" die grundgesetzliche Rollenverteilung zwischen Exekutive und Judikative verändern. Nimmt ein Gericht ein behördliches Letztentscheidungsrecht an, das mangels gesetzlicher Grundlage nicht besteht, und unterlässt es deshalb die vollständige Prüfung der Behördenentscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit, steht dies nicht nur in Widerspruch zur Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG), sondern verletzt vor allem auch das Versprechen wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.
Auch der Gesetzgeber ist im Übrigen nicht frei in der Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse. Zwar liegt es grundsätzlich in seiner Hand, den Umfang und Gehalt der subjektiven Rechte der Bürger zu definieren und so mit entsprechenden Folgen für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle auch deren Rechtsstellung gegenüber der Verwaltung differenziert auszugestalten. Allerdings ist er hierbei durch die Grundrechte sowie durch das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip und die hieraus folgenden Grundsätze der Bestimmtheit und Normenklarheit gebunden. Will er im Übrigen gegenüber von ihm anerkannten subjektiven Rechten die gerichtliche Kontrolle zurücknehmen, hat er zu berücksichtigen, dass im gewaltenteilenden Staat grundgesetzlicher Prägung die letztverbindliche Normauslegung und auch die Kontrolle der Rechtsanwendung im Einzelfall grundsätzlich den Gerichten vorbehalten ist. Deren durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierte Effektivität darf auch der Gesetzgeber nicht durch zu zahlreiche oder weitgreifende Beurteilungsspielräume für ganze Sachbereiche oder gar Rechtsgebiete aushebeln. Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds.
Offen bleiben kann, ob gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbare Entscheidungsspielräume der Verwaltung ausnahmsweise auch ohne gesetzliche Grundlage von Verfassungs wegen dann zulässig sind, wenn eine weitergehende gerichtliche Kontrolle zweifelsfrei an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stieße<ref>(so offenbar in den Prüfungsfällen vgl. BVerfGE 84, 34 [50]; 84, 59 [77 f.])</ref>."<ref>BVerfG, Beschluss vom 31.05.2011 - 1 BvR 857/07 Abs. 55-63</ref>
Rechtsprechung
- BVerfG, Beschluss vom 31.05.2011 - 1 BvR 857/07 = BVerfGE 129, 1 - Zur gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen im Hinblick auf die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe
Siehe auch
Fußnoten
<references/>