Effektiver Rechtsschutz
"Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG schließt ein, daß die Verwaltungsvorgänge, welche die für das Verwaltungsverfahren und dessen Ergebnis maßgeblichen Sachverhalte und behördlichen Erwägungen dokumentieren, dem Gericht zur Verfügung stehen, soweit sie für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung und der geltend gemachten Rechtsverletzung von Bedeutung sein können.
a) Wie das Bundesverfassungsgericht stets betont hat, verlangt der Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen im Hinblick auf die Wahrung oder die Durchsetzung seiner subjektiven öffentlichen Rechte gewährt, eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle<ref>(vgl. BVerfGE 84, 34 [49]; stRspr)</ref>. Die Gewährleistung schließt einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen der Individualrechtssphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt ein<ref>(vgl. BVerfGE 8, 274 [326]; stRspr)</ref>. Ein solcher Rechtsschutz ist von besonderer Bedeutung, wenn es um die Abwehr von Grundrechtsverletzungen oder um die Durchsetzung verfassungsrechtlicher Gewährleistungen zugunsten des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt geht<ref>(vgl. BVerfGE 60, 253 [266])</ref>.
Zur Effektivität des Rechtsschutzes gegenüber der öffentlichen Gewalt gehört es, daß das Gericht das Rechtsschutzbegehren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüfen kann und genügend Entscheidungsbefugnisse besitzt, um drohende Rechtsverletzungen abzuwenden oder erfolgte Rechtsverletzungen zu beheben (vgl. BVerfGE 61, 82 [111]; stRspr). Das schließt grundsätzlich eine Bindung des Gerichts an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Wertungen aus<ref>(vgl. BVerfGE 15, 275 [282]; 84, 34 [49])</ref>. Das Gericht muß die tatsächlichen Grundlagen selbst ermitteln und seine rechtliche Auffassung unabhängig von der Verwaltung, deren Entscheidung angegriffen ist, gewinnen und begründen.
Soweit die Effektivität des Rechtsschutzes von der Offenlegung der Verwaltungsvorgänge abhängt, die zu der angegriffenen Entscheidung geführt haben, wird auch die Kenntnisnahme durch das Gericht von dem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG umschlossen. Andernfalls wäre ihm die Gewährung eines umfassenden Rechtsschutzes unmöglich. Es müßte überall dort, wo keine anderen Erkenntnisquellen zur Verfügung stehen, von den Darlegungen der Behörden ausgehen und könnte allenfalls prüfen, ob die Entscheidungen auf der Grundlage der als zutreffend zu unterstellenden Behauptungen rechtmäßig sind.
b) Der Rechtsweg, den Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen gewährleistet, bedarf allerdings der gesetzlichen Ausgestaltung. Rechtsschutz ist eine staatliche Leistung, deren Voraussetzungen erst geschaffen, deren Art näher bestimmt und deren Umfang im einzelnen festgelegt werden müssen. Art. 19 Abs. 4 GG gibt dem Gesetzgeber dabei nur die Zielrichtung und die Grundzüge der Regelung vor, läßt ihm im übrigen aber einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum. Doch darf er die Notwendigkeit einer umfassenden Nachprüfung des Verwaltungshandelns in tatsächlicher und rechtlicher HinBVerfGE 101, 106 (123)BVerfGE 101, 106 (124)sicht und eine dem Rechtsschutzbegehren angemessene Entscheidungsart und Entscheidungswirkung nicht verfehlen<ref>(vgl. BVerfGE 60, 253 [268 f., 294])</ref>.
Im Regelungszusammenhang der Verwaltungsgerichtsordnung trägt § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO den Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 GG an die umfassende gerichtliche Nachprüfbarkeit des Verwaltungshandelns Rechnung, indem er alle Behörden zur Vorlage von Urkunden oder Akten und zu Auskünften verpflichtet. Die Vorschrift dient dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung<ref>(vgl. BTDrucks I/4278, S. 44, zu § 100 VwGO)</ref>, der umfassenden Aufklärung des Sachverhalts durch das Gericht sowie der Kenntnis der Beteiligten von den maßgeblichen Vorgängen<ref>(vgl. BVerwGE 14, 31 [32]; 15, 132 [132 f.])</ref> und bildet insofern eine Konkretisierung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG."<ref>BVerfG, Beschluss vom 27.10.1999 - 1 BvR 385/90 Abs. 66-71</ref>
Normen
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
- GR-Charta 47: Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen. Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.
Grundgesetz (GG)
- GG Art. 19 Abs. 4 Satz 1: Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.
Europäische Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten)
- EMRK Art. 13 Recht auf wirksame Beschwerde: Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)
- AEMR Art. 8: Jeder Mensch hat Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz vor den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen alle Handlungen, die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzen.
Historisch (Außer Kraft)
- Paulskirchenverfassung Art. 182: Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.
Rechtsprechung
- BVerfG, Beschluss vom 27.10.1999 - 1 BvR 385/90 = BVerfGE 101, 106 - 'in-camera-Verfahren' im Verwaltungsprozess: "Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist nicht der materiellrechtliche Auskunftsanspruch des Beschwerdeführers, den er aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ableitet, sondern seine Durchsetzbarkeit im gerichtlichen Verfahren. Diese findet ihre verfassungsrechtliche Absicherung aber in der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG<ref>(vgl. BVerfGE 65, 1 [70])</ref>. Zwar können sich auch aus den materiellen Grundrechten unter Umständen Anforderungen an das gerichtliche Verfahren ergeben<ref>(vgl. BVerfGE 39, 276 [294]; 51, 150 [156]; 52, 391 [406 ff.])</ref>. Das ist aber nur dann der Fall, wenn es um besondere oder zusätzliche Maßgaben geht, die gerade im Interesse einer bestimmten verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie erforderlich sind<ref>(vgl. etwa BVerfGE 46, 325 [335 f.])</ref>."<ref>Absatz 64</ref>
- BVerfG, Urteil vom 15.12.1983 - 1 BvR 209/83; 1 BvR 269/83; 1 BvR 362/83; 1 BvR 420/83; 1 BvR 440/83; 1 BvR 484/83 = BVerfGE 65, 1; NJW 1984, 419
Publikationen
Lehrbücher
- Volker Epping, Grundrechte (eBook), Springer Verlag Berlin, 6. Aufl. 2015, ISBN 9783642546587 Kapitel 18 (Rdnr. 914 ff./Pos. 13279)
Siehe auch
Fußnoten
<references/>