Pflichtmitgliedschaft in einer Industrie- und Handelskammer
Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach ausgesprochen, dass GG Art. 9 den Einzelnen vor einer gesetzlich angeordneten Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft oder Anstalt nicht schützt<ref>(BVerfGE 10, 89 [102]; 10, 354 [361 f.])</ref>. Auch GG Art. 12 Abs. 1 ist nicht berührt. Die Zugehörigkeit zur Industrie- und Handelskammer ist eine einfache Folge der Ausübung eines bestimmten Berufs. Mit ihrer Anordnung hat der Gesetzgeber weder die Art und Weise der Ausübung des Berufs geregelt noch eine berufspolitische Tendenz verfolgt<ref>(BVerfGE 10, 354 [362 f.]; 13, 181 [184 ff.])</ref>. Das angegriffene Gesetz ist Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung; es beschränkt daher die wirtschaftliche Handlungsfreiheit, ohne gegen Art. 2 Abs. 1 GG zu verstoßen<ref>(vgl. BVerfGE 10, 89 [99]).</ref>
Entstehungsgeschichte der Industrie- und Handelskammern
Die Industrie- und Handelskammern verdanken ihre Entstehung dem in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs im 19. Jahrhundert hervorgetretenen Bedürfnis nach einer Stelle, die mit Anspruch auf sachliche Autorität die staatlichen Organe und Behörden durch Berichterstattung und Beratung in wirtschaftlichen Fragen unterstützen und ihnen verlässliche Grundlagen für ihre Entscheidungen auf diesem Gebiete liefern könne. Umfassender wird bereits im preussischen Gesetz vom 24. Februar 1870 als Hauptaufgabe der Kammern bezeichnet die Wahrnehmung der Gesamtinteressen der Handel- und Gewerbetreibenden des Bezirks; insbesondere sollen sie die Behörden in der Förderung des Handels und der Gewerbe durch tatsächliche Mitteilungen, Anträge und Erstattung von Gutachten unterstützen. An dem so gesetzlich festgelegten Aufgabenbereich der Kammern hat sich bis 1933 nichts geändert; auch § 1 Abs. 1 IHKG nimmt ihn wieder auf. Hinzugekommen sind - teils nach § 1 Abs. 1 bis 3 IHKG, teils im Wege besonderer Gesetzgebung - zahlreiche Einzelaufgaben zumeist verwaltungsmäßiger Natur; bei ihrer Erledigung werden die Kammern als eine Art Sonderverwaltungsbehörden tätig, die sowohl allgemeine Vorschriften als auch Verwaltungsakte erlassen können.
In der industriellen Gesellschaft, in der auch die allgemeine Staatspolitik in weitem Maße von wirtschaftlichen Vorgängen und Entwicklungen bestimmt wird und demzufolge - auch in einer grundsätzlich freien Wirtschaft - staatliche Einwirkungen auf das Wirtschaftsleben unvermeidbar sind und ständig in großer Zahl erfolgen, ist es naheliegend und jedenfalls von der Verfassung her unbedenklich, dass der Staat die Förderung der Wirtschaft im weitesten Sinne zum Rang einer besonders wichtigen Staatsaufgabe erhebt. Es kann ihm dann nicht verwehrt sein, sich bei der Erfüllung dieser Aufgabe der Hilfe von Organen zu bedienen, die er - auf gesetzlicher Grundlage - aus der Wirtschaft selbst heraus sich bilden lässt und die durch ihre Sachkunde die Grundlagen dafür schaffen helfen, dass staatliche Entschließungen auf diesem Gebiet ein möglichst hohes Maß an Sachnähe und Richtigkeit gewinnen. Auch diese besonderen Einrichtungen, wie sie die Industrie- und Handelskammern darstellen, nehmen damit an der Erfüllung einer echten Staatsaufgabe teil; sie erfüllen sie in erster Linie durch Vorschläge, Gutachten und Berichte, durch Schaffung von Einrichtungen zur Förderung der Wirtschaft, insbesondere auf dem Gebiet der Berufsausbildung und des Prüfungswesens, endlich durch die Erledigung bestimmter Aufgaben der Wirtschaftsverwaltung (z.B. Ausstellung von Ursprungszeugnissen und sonstigen Bescheinigungen).
Bei den Aufgaben der Industrie- und Handelskammern lassen sich zwar die beiden Komplexe "Vertretung der gewerblichen Wirtschaft gegenüber dem Staat" und "Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet" deutlich scheiden; es ist jedoch unzweifelhaft, dass es sich in beiden Fällen um legitime öffentliche Aufgaben<ref>(BVerfGE 10, 89 [102])</ref> handelt. Namentlich stellt auch die erstgenannte Aufgabe nicht, wie die Beschwerdeführerin meint, "reine Interessenvertretung" dar. Die von der Beschwerdeführerin gezogene Parallele zu den Fachverbänden übersieht, daß diese primär die Interessen ihrer Wirtschaftszweige vertreten, so dass eine umfassende Würdigung entgegenstehender und allgemeiner Interessen von ihnen nicht ohne weiteres erwartet wird. Demgegenüber ist es den Industrie- und Handelskammern gesetzlich zur Pflicht gemacht, stets das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft im Auge zu behalten und die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe lediglich "abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen"; es ist ihnen die gesetzliche Verantwortung dafür auferlegt, daß sie im Rahmen ihrer Aufgabe, die gewerbliche Wirtschaft im ganzen zu fördern, das höchstmögliche Maß von Objektivität walten lassen. An der Erfüllung dieser Aufgabe besteht ein erhebliches öffentliches Interesse; gerade mit Rücksicht auf sie hat das preuß. Oberverwaltungsgericht schon 1890 die Kammern als "Hilfsorgane der Staatsregierung" angesehen, die der Staat sich geschaffen habe, damit sie ihn "in der Fürsorge um Handel und Verkehr mit ihren Erfahrungen berufsmäßig unterstützen" könnten (Entsch. Bd. 19 S. 62 [68]). Daß dieses Interesse umso stärker ist, je mehr sich Zahl und Intensität staatlicher Maßnahmen im wirtschaftlichen Bereich steigern, bedarf keiner näheren Darlegung.
Übertragene Aufgaben
Es leuchtet ein, dass die Vertretung der Gesamtinteressen der gewerblichen Wirtschaft mit der praktisch im Vordergrund stehenden Aufgabe, die Staatsorgane zu beraten, ihnen Gutachten zu erstatten und Vorschläge zu machen, am zweckmäßigsten einem Selbstverwaltungsorgan der Wirtschaft anvertraut wurde. Es ist aber auch nicht zu beanstanden, dass diesem Organ weitere, spezifisch verwaltungsmäßige, ja zum Teil hoheitliche Aufgaben übertragen worden sind und weiter übertragen werden, die sonst von staatlichen Behörden wahrgenommen werden müssten; in Betracht kommen etwa: die Börsenaufsicht, die öffentliche Bestellung von Versteigerern, die Bestellung und Beeidigung von Sachverständigen, die Durchführung bestimmter staatlich angeordneter Prüfungen u. dgl. Dem Gesetzgeber steht es grundsätzlich frei, öffentliche Aufgaben unmittelbar durch staatliche Behörden oder mittelbar durch Körperschaften des öffentlichen Rechts erfüllen zu lassen, also staatliche Aufgaben an Selbstverwaltungskörper zu delegieren<ref>(BVerfGE 10, 89 [102, 104])</ref>. Im vorliegenden Fall handelt es sich im wesentlichen um Verwaltungsaufgaben im wirtschaftlichen Bereich, die sich in den Rahmen der Gesamtaufgabe der Industrie- und Handelskammern einfügen, den Interessen der von ihnen vertretenen Wirtschaftskreise dienen und die besondere Sach- und Personenkenntnis der Kammerorgane voraussetzen. Staatliche Behörden könnten Entscheidungen dieser Art nur nach Einholung sachverständigen Rates treffen; die unmittelbare Erledigung durch die Kammern erleichtert somit den Geschäftsgang und erspart Kosten.
Notwendigkeit
Aus den vorstehenden Darlegungen erhellt zugleich, dass es zur sachgemäßen Erfüllung der den Industrie- und Handelskammern übertragenen Aufgaben sinnvoll, ja notwendig war, ihre Organisation auf dem Prinzip der Pflichtzugehörigkeit aufzubauen.
Der Wert der von den Kammern erarbeiteten Vorschläge und Gutachten beruht einmal auf der Unabhängigkeit ihres Urteils, zum anderen auf dem Maße des Überblicks, das die Kammern im Bereich der zu beurteilenden Verhältnisse besitzen. Die Gutachten gewinnen ihre sachliche Autorität daraus, daß sie über die Spezialkenntnisse und beruflichen Erfahrungen der einzelnen Branchen und Unternehmen hinaus die Auffassungen und Beurteilungsmaßstäbe der gesamten gewerblichen Wirtschaft zur Geltung bringen können. Den Kammern steht ein weiter Kreis sachverständiger Fachleute zur Verfügung, innerhalb dessen die verschiedensten Gesichtspunkte und Anschauungsweisen zu Worte kommen, aber auch in sich ausgeglichen werden können. Ohne die ständige Möglichkeit, die Auffassungen aller kaufmännischen Kreise kennenzulernen und gegeneinander abzuwägen, läßt sich diese Aufgabe nicht erfüllen; nur so können die Kammern auch wirksam "Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns" wahren (§ 1 Abs. 1 IHKG) oder glaubwürdig als Träger der Einigungsstellen für Wettbewerbsstreitigkeiten (§ 27a UWG) fungieren.
Wäre der Beitritt zur Industrie- und Handelskammer freiwillig, so hinge die Zusammensetzung der Mitgliederschaft vom Zufall ab. Die Kammern wären auf die Werbung von Mitgliedern angewiesen. Finanzstarke Mitglieder würden sich in den Vordergrund schieben und mit Austrittsdrohungen die Berücksichtigung ihrer Sonderinteressen und Sonderauffassungen zu erzwingen versuchen. Durch Fernbleiben oder Austritt ganzer Gruppen von Handel- und Gewerbetreibenden könnte den Kammern der Einblick in ihre Verhältnisse erschwert oder entzogen werden. In gleichem Maße wären die Vertrauenswürdigkeit solcher Kammern, ihre umfassende Sachkunde und Objektivität nicht mehr institutionell gesichert.
Zumutbarkeit
Dieser im öffentlichen Interesse liegenden sachlichen Notwendigkeit des Organisationszwangs gegenüber ist die aus ihm sich ergebende Freiheitsbeschränkung der Mitglieder unbedeutend. Die Verpflichtungen aus der Kammerzugehörigkeit bestehen fast nur in der Zahlung der Beiträge. Diese sind nicht unzumutbar hoch und engen die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der Mitglieder auch nicht unerträglich ein. Das Gesetz hat in § 3 Abs. 2 bis 4 Vorkehrung getroffen, dass die Mitglieder nach ihrer Leistungsfähigkeit herangezogen werden; bei wirtschaftlich schwächeren Mitgliedern wird u.U. nur der Grundbeitrag oder sogar nur die Hälfte davon erhoben. Gegen die Heranziehung zu Beiträgen besteht die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten; auch wacht die staatliche Aufsicht über die Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen. Hieraus erklärt es sich, dass die beteiligten Wirtschaftskreise so gut wie einhellig das Prinzip des Organisationszwangs bejahen. Offenbar bewerten sie die Möglichkeit, über die Beteiligung an der Kammerarbeit an der Gestaltung des Wirtschaftslebens teilnehmen zu können, höher als die hieraus sich ergebende materielle Belastung."<ref>BVerfG, Beschluss vom 19.12.1962 - 1 BvR 541/57Abs. 18-28</ref>
Siehe auch
Fußnoten
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