Allgemeine Handlungsfreiheit: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 20. Dezember 2015, 10:54 Uhr
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (GG Art. 2 Abs. 1)
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. (GG Art. 2 Abs. 2)
Schutzbereich
Persönlicher Schutzbereich
- Jedermann
- Juristische Personen, GG Art. 19 Abs. 3
Sachlicher Schutzbereich
Eingriff
Rechtfertigung
Schranken
Verfassungsmäßige Ordnung
"Verfassungsmäßige Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG ist die verfassungsmäßige Rechtsordnung, d.h. die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind."<ref>BVerfG, Urteil vom 16.01.1957 - 1 BvR 253/56 = BVerfGE 6, 32 - Elfes Leitsatz 3</ref> (einfacher Gesetzesvorbehalt)<ref>Volker Epping, Grundrechte, 6. Auflage 2014, Springer, Berlin Heidelberg, ASIN B00R3H9ZBI Pos. 8565</ref>
"Wird ... in Art. 2 Abs. 1 GG mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit die allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistet, die - soweit sie nicht Rechte anderer verletzt oder gegen das Sittengesetz verstößt - nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist, so kann unter diesem Begriff nur die allgemeine Rechtsordnung verstanden werden, die die materiellen und formellen Normen der Verfassung zu beachten hat, also eine verfassungsmäßige Rechtsordnung sein muß. In diesem Sinne bezeichnet auch das Oberverwaltungsgericht Münster im Ausgangsverfahren die verfassungsmäßige Ordnung als die "der Verfassung gemäße", die "gemäß der Verfassung aufgebaute und im Rahmen der Verfassung sich haltende Rechtsordnung". Dieses Ergebnis kann nicht mit dem Hinweis darauf entkräftet werden, daß "verfassungsmäßige Ordnung" in anderen Bestimmungen des Grundgesetzes unzweifelhaft etwas anderes bedeute, der Begriff aber überall denselben Inhalt haben müsse. Die Auslegung hängt vielmehr von der Funktion ab, die der Begriff innerhalb der jeweiligen Norm zu erfüllen hat. Die Analyse der gesetzlichen Tatbestände, in denen der Begriff vorkommt, ergibt, daß er stets einen Kreis von Normen umschreibt, an die der jeweilige Normadressat gebunden sein soll. Daraus erhellt ohne weiteres, daß der Umfang des jeweils die verfassungsmäßige Ordnung darstellenden Normenkomplexes, dem diese Bindungswirkung zukommt, nicht für jeden der - unter sich ganz ungleichartigen - Normadressaten der gleiche sein kann. Während also z. B. sicherlich der Gesetzgeber an die Verfassung schlechthin gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG), kann es in anderem Zusammenhang - z. B. in Art. 9 GG, § 90 a StGB geboten sein, den Begriff "verfassungsmäßige Ordnung" auf gewisse elementare Grundsätze der Verfassung zu beschränken<ref>vgl. BGHSt. 7, 222 [227] 9, 285 [286]</ref>; der Bürger aber wird in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit legitim eingeschränkt nicht nur durch die Verfassung oder gar nur durch "elementare Verfassungsgrundsätze", sondern durch jede formell und materiell verfassungsmäßige Rechtsnorm."<ref>BVerfG, Urteil vom 16.01.1957 - 1 BvR 253/56 Abs. 17</ref>
"In der Literatur wird häufig der Einwand erhoben, bei dieser Auffassung werde das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG "leerlaufen", da es unter den allgemeinen Gesetzesvorbehalt gestellt werde. Dabei wird jedoch übersehen, daß die Gesetzgebungsgewalt nach dem Grundgesetz stärkeren Beschränkungen unterliegt als unter der Geltung der Reichsverfassung von 1919. Damals waren nicht nur zahlreiche Grundrechte durch den allgemeinen Gesetzesvorbehalt, dem jedes verfassungsmäßig erlassene Gesetz entsprach, tatsächlich "leerlaufend"; der Gesetzgeber konnte durch ein mit der verfassungsändernden Mehrheit erlassenes Gesetz auch im Einzelfall eine ihm entgegenstehende verfassungsrechtliche Schranke jederzeit überwinden. Demgegenüber hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die die öffentliche Gewalt begrenzt. Durch diese Ordnung soll die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft gesichert werden<ref>BVerfGE 2, 1 [12 f.]; 5, 85 [204 ff.]</ref>. Die obersten Prinzipien dieser Wertordnung sind gegen Verfassungsänderungen geschützt (Art. 1, 20, 79 Abs. 3 GG). Verfassungsdurchbrechungen sind ausgeschlossen; die Verfassungsgerichtsbarkeit überwacht die Bindung des Gesetzgebers an die Maßstäbe der Verfassung. Gesetze sind nicht schon dann "verfassungsmäßig", wenn sie formell ordnungsmäßig ergangen sind. Sie müssen auch materiell in Einklang mit den obersten Grundwerten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als der verfassungsrechtlichen Wertordnung stehen, aber auch den ungeschriebenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und den Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen, vornehmlich dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und dem Sozialstaatsprinzip. Vor allem dürfen die Gesetze daher die Würde des Menschen nicht verletzen, die im Grundgesetz der oberste Wert ist, aber auch die geistige, politische und wirtschaftliche Freiheit des Menschen nicht so einschränken, daß sie in ihrem Wesensgehalt angetastet würde (Art. 19 Abs. 2, Art. 1 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 GG). Hieraus ergibt sich, daß dem einzelnen Bürger eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist. Ein Gesetz, das in ihn eingreifen würde, könnte nie Bestandteil der "verfassungsmäßigen Ordnung" sein; es müßte durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt werden.
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß eine Rechtsnorm, nur wenn sie allen diesen Anforderungen entspricht, aber auch immer dann zum Bestandteil der "verfassungsmäßigen Ordnung" wird und somit den Bereich der allgemeinen Handlungsfähigkeit des Bürgers wirksam beschränkt. Verfahrensrechtlich bedeutet das: Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt."<ref>BVerfG, Urteil vom 16.01.1957 - 1 BvR 253/56 Abs. 32 und 33</ref>
Rechte anderer
- Teil der verfassungsmäßigen Ordnung<ref>Volker Epping, Grundrechte, 6. Auflage 2014, Springer, Berlin Heidelberg, ASIN B00R3H9ZBI Pos. 8612</ref>
Sittengesetz
- Teil der verfassungsmäßigen Ordnung<ref>Volker Epping, Grundrechte, 6. Auflage 2014, Springer, Berlin Heidelberg, ASIN B00R3H9ZBI Pos. 8612</ref>
Schranken-Schranken
Normen
Grundgesetz (GG)
Verfassungen anderer Länder
Frankreich
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789
- Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789: "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuß der gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können allein durch Gesetz festgelegt werden." (heute noch gültiges Verfassungsrecht Frankreichs)
Rechtsprechung
Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
- BVerfG, Urteil vom 15.01.2002 - 1 BvR 1783/99 = BVerfGE 104, 337 - Schächten
- BVerfG, Beschluss vom 10.03.1998 - 1 BvR 178/97 = BVerfGE 97, 332 - Kindergartengebühr IV
- BVerfG, Beschluss vom 09.03.1994 - 2 BvL 43/92; 2 BvL 51/92; 2 BvL 63/92; 2 BvL 64/92; 2 BvL 70/92; 2 BvL 80/92; 2 BvR 2031/92 = BVerfGE 90, 145 - Cannabis
- BVerfG, Beschluss vom 06.06.1989 - 1 BvR 921/85 = BVerfGE 80, 137 - Reiten im Walde
- BVerfG, Beschluss vom 26.01.1982 - 1 BvR 1295/80; 1 BvR 201/81; 1 BvR 881/81; 1 BvR 1074/81; 1 BvR 1319/81 = BVerfGE 59, 275 - Motorradhelm
- BVerfG, Beschluss vom 23.05.1980 - 2 BvR 854/79 = BVerfGE 54, 143 - Taubenfütterungsverbot
- BVerfG, Beschluss vom 27.03.1979 - 2 BvR 1011/78 = BVerfGE 51, 77 - Personalrat
- BVerfG, Beschluss vom 08.01.1959 - 1 BvR 425/52 = BVerfGE 9, 83 - Verfassungswidrigkeit der Verordnung über Herstellung von Arzneifertigwaren
- BVerfG, Urteil vom 16.01.1957 - 1 BvR 253/56 = BVerfGE 6, 32 - Elfes
Publikationen
Dissertationen
Lehrbücher
- Volker Epping, Grundrechte, 6. Auflage 2014, Springer, Berlin Heidelberg, ASIN B00R3H9ZBI Pos. 8238 ff. (Kapitel 11)
Fachaufsätze
- Joachim Lege, Die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 I GG, Jura 2002, 753 ff.
- Gunnar Duttge, Freiheit für alle oder allgemeine Handlungsfreiheit?, NJW 1997, 3353
- Martin Burgi, Das Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung durch einfaches Gesetz, ZG 1994, 341 ff.
- Bodo Pieroth, Der Wert der Auffangfunktion des Art 2 Abs 1 GG | AöR 115, 33-44 (1990)
Siehe auch
Fußnoten
<references/>