Gebietsänderung

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"Die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG steht Veränderungen des Gebietsbestandes einzelner Gemeinden nicht entgegen. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet Gemeinden nur institutionell, nicht individuell. Auflösungen von Gemeinden, Gemeindezusammenschlüsse, Eingemeindungen und sonstige Gebietsänderungen beeinträchtigen den verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich des Selbstverwaltungsrechts deshalb grundsätzlich nicht. Zum Inhalt des verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereichs der kommunalen Selbstverwaltung, so wie diese sich historisch entwickelt hat<ref>vgl. zur Bedeutung der geschichtlichen Entwicklung und der verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung BVerfGE 50, 195 [201]; 59, 216 [226 f.]</ref>, gehört jedoch, daß Bestands- und Gebietsänderungen von Gemeinden nur aus Gründen des öffentlichen Wohls und nach Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften zulässig sind <ref>vgl. den Beschluß des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats, BVerfGE 50, 50; BVerfGE 50, 195 [202]</ref>.

Das Gebot der Anhörung der von Neugliederungs- oder Gebietsänderungsmaßnahmen betroffenen Gemeinde fordert, daß die Gemeinde von der beabsichtigten Regelung Kenntnis erlangt. Diese Information muß den wesentlichen Inhalt des Neugliederungsvorhabens und der dafür gegebenen Begründung umfassen<ref>vgl. BVerfGE 50, 195 [203]</ref>. Sie muß so rechtzeitig erfolgen, daß es der Gemeinde möglich ist, sich aufgrund eigener fundierter Vorbereitung unter Mitwirkung der gewählten Bürgervertretung zur geplanten Gebietsänderung als einer für sie existentiellen Entscheidung sachgerecht zu äußern und ihre Auffassung zur Geltung zu bringen. Die dafür zur Verfügung zu stellende Zeit ist, ohne daß sich fest umrissene Zeiträume oder Mindestfristen mit dem Anspruch auf generelle Verbindlichkeit angeben lassen, dem jeweiligen Umfang des Neugliederungsvorhabens und dem dabei im konkreten Einzelfall maßgeblichen Sachverhalt entsprechend - im Zweifel eher großzügig - zu bemessen. Die Stellungnahme der Gemeinde, durch die zumeist erst die erforderliche umfassende und zuverlässige Information über alle für die Gebietsreform erheblichen Umstände erlangt wird, ist vor einer abschließenden Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen und bei der Abwägung der für und gegen die Neugliederungsmaßnahme sprechenden Gründe zu berücksichtigen.

Mit Organisationsgesetzen über eine Neugliederung oder eine anderweitige Gebietsänderung von Gemeinden strebt der Gesetzgeber an, die Voraussetzungen für eine funktionstüchtige kommunale Selbstverwaltung zu verbessern. Der finale Charakter einer solchen Regelung eines komplexen Sachverhalts verleiht ihr einen deutlichen planerischen Einschlag. Dies wirkt sich auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen aus, denen die Entscheidung des Gesetzgebers unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Wohls zu genügen hat.

Über die Ausrichtung einer gemeindlichen Gebietsänderung oder Neugliederung an Gründen des öffentlichen Wohls hat der Gesetzgeber allerdings nach Zielen, Leitbildern und Maßstäben, die er selbst gesetzt hat, grundsätzlich frei zu entscheiden. Um dem Gemeinwohl zu entsprechen, muss die in den Gebietsbestand einer Gemeinde eingreifende gesetzliche Regelung aber schon in ihrem Zustandekommen bestimmten prozeduralen Anforderungen genügen. Ferner muß sich die gesetzgeberische Problemlösung auch in ihrem Ergebnis an gewissen unverzichtbaren, aus dem Grundgesetz abzuleitenden Wertmaßstäben orientieren. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt ermittelt und dem Gesetz zugrundegelegt hat und ob er die im konkreten Fall angesprochenen Gemeinwohlgründe sowie die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung in die vorzunehmende Abwägung eingestellt hat. Auf der Grundlage eines in dieser Weise ermittelten Sachverhalts und der Gegenüberstellung der daraus folgenden verschiedenen - oft gegenläufigen - Belange ist der Gesetzgeber befugt, sich letztlich für die Bevorzugung eines Belangs (oder mehrerer Belange) und damit notwendig zugleich für die Zurückstellung aller anderen betroffenen Gesichtspunkte zu entscheiden. Insoweit hat sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle eines Neugliederungsgesetzes auf die Prüfung zu beschränken, ob der gesetzgeberische Eingriff in den Bestand einer einzelnen Gemeinde offenbar ungeeignet oder unnötig ist, um die mit ihm verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob er zu ihnen deutlich außer Verhältnis steht und ob das Gesetz frei von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen ist. Soweit Ziele, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers in Rede stehen, hat das Verfassungsgericht darauf zu achten, ob diese offensichtlich oder eindeutig widerlegbar sind oder ob sie den Prinzipien der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen.

Die vorgenannten Anforderungen gelten grundsätzlich auch für solche Gesetze, die eine frühere Gemeindeneugliederung korrigieren oder rückgängig machen. Stellt der Gesetzgeber in noch fortbestehendem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einer früheren umfassenden Neugliederung, ohne deren Ziele und Leitvorstellungen aufzugeben, lediglich in einzelnen Fällen den ursprünglichen Gebietszuschnitt oder Gemeindebestand wieder her, um damit einem von ihm nicht vorausgesehenen Mangel in der Verwirklichung seines Neugliederungsziels abzuhelfen oder auf eine unvorhergesehene Entwicklung zu reagieren, so kann dies als "Rück-Neugliederung" bezeichnet werden, während in Fällen erneuter Gebietsreform im übrigen, insbesondere solchen aufgrund eines veränderten Konzepts, von "Mehrfachneugliederung" gesprochen wird<ref>vgl. SaarBVerfGE 86, 90 (109)BVerfGE 86, 90 (110)ländischer Verfassungsgerichtshof, NVwZ 1986, S. 1008 [1009]; Stüer, DVBl. 1977, S. 1 [5 ff.]</ref>.

Der Gesetzgeber ist nicht prinzipiell gehindert, eine Neugliederungsmaßnahme aufzuheben oder zu ändern, wenn diese sich ihm als Fehlentscheidung darstellt oder wenn ihm eine erneute Regelung abweichenden Inhalts wegen veränderter Verhältnisse oder neuer Erkenntnisse notwendig oder zweckmäßig erscheint. Der besondere Charakter solcher Gesetze wirkt sich indes auf die verfassungsrechtlichen Maßstäbe aus, denen sie zu genügen haben.

  • Die Anhörung der Gemeinde muß bei einem Rück- Neugliederungsvorhaben der Besonderheit des Sachverhalts angepaßt sein. Der Gesetzgeber muss der Gemeinde insbesondere die Gründe nachvollziehbar mitteilen, die ihn veranlassen, seine grundsätzlich auf dauerhaften Bestand angelegte Neugliederung schon nach einer - gemessen an der zunächst ins Auge gefaßten Kontinuität - verhältnismäßig kurzen Zeit rückgängig zu machen.
  • Auch im Blick auf die Rechtfertigung aus Gründen des öffentlichen Wohls erfordert eine Rück-Neugliederungsmaßnahme eine besondere Beurteilung. Wiederholte gesetzliche Änderungen im Bestand oder im gebietlichen Zuschnitt von Gemeinden sind geeignet, die rechtsstaatlich gebotene Rechtssicherheit zu beeinträchtigen. Rechtssicherheit bedeutet hier auch Bestands- und Vertrauensschutz<ref>vgl. BVerfGE 30, 392 [403 f.]</ref>. In Betracht zu ziehen ist in diesem Zusammenhang zum einen das Vertrauen der bereits einmal nach den Zielvorstellungen des Gesetzgebers neugegliederten Gemeinde, wenn sie etwa bestimmte auf den neuen Gebietsbestand ausgerichtete und längerfristig wirksame Entscheidungen getroffen und Entwicklungen in die Wege geleitet hat. Zum anderen ist auch das für eine Identifikation mit der Gemeinde und eine Bereitschaft zur Beteiligung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft notwendige Vertrauen der Bürger in die Beständigkeit einmal getroffener staatlicher Organisationsmaßnahmen in Rechnung zu stellen. Die Bürger bringen gesetzlichen Maßnahmen dieser Art die - berechtigte - Erwartung entgegen, daß sie nicht Gegenstand kurzfristiger oder experimenteller Überlegungen, sondern auf Kontinuität angelegt und insofern in ihrem Bestand geschützt sind. Diese Gesichtspunkte hat der Gesetzgeber, der sich anschickt, eine Neugliederung nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder rückgängig zu machen, in der Abwägung zu berücksichtigen.

Die fehlende Akzeptanz des die neue örtliche Gemeinschaft konstituierenden Gebietszuschnitts bei erheblichen Teilen der Einwohnerschaft kann sich nachteilig auf die notwendige Integration und die zu wahrende örtliche Verbundenheit der Einwohner auswirken und letztlich die bürgerschaftliche Verwurzelung und die Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung beeinträchtigen. Die Behebung solcher Nachteile durch erneuten Eingriff in den gemeindlichen Gebietsbestand, z.B. durch Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse, ist deshalb grundsätzlich zulässiges Gemeinwohlziel. Dem Gesetzgeber ist es dabei nicht verwehrt, dem Willen der Bevölkerung nunmehr ein größeres und dem vorher zugrundegelegten Leitbild einer bestimmten Mindesteinwohnerzahl für eine eigenständige Selbstverwaltungseinheit ein demgegenüber geringeres Gewicht beizumessen.

Ein bloßer Unwille im Sinne einer Stimmung der Unzufriedenheit mit der durch die Neugliederung geschaffenen Lage wird allerdings für sich allein eine Rück-Neugliederungsmaßnahme nicht zu tragen vermögen. Das erforderliche Gewicht als ein Belang, der gegenüber den gegen eine Rück- Neugliederung sprechenden Belangen der Rechtssicherheit und des Bestandsschutzes den erneuten Eingriff in den gemeindlichen Gebietsbestand verfassungsrechtlich rechtfertigt, kann ein Defizit an Akzeptanz jedoch dann gewinnen, wenn es sich auf objektivierbare gewichtige Gründe aus der historischen und kulturellen Entwicklung, aus den geographischen Verhältnissen, der wirtschaftlichen oder sozialen Struktur oder aus anderen vergleichbaren Gegebenheiten zurückführen läßt, so daß mit seinem Schwinden in einem überschaubaren Zeitraum nicht zu rechnen ist. Auch kommt es darauf an, ob ein nach außen erkennbar werdender Mangel an örtlichem Verbundenheitsgefühl in der Einwohnerschaft geeignet ist, die Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung der neugegliederten Gemeinde und deren gedeihliche Entwicklung fühlbar und nachhaltig zu stören.

Um in Orientierung an diesen Maßstäben zu einer tragfähigen, BVerfGE 86, 90 (111)BVerfGE 86, 90 (112)dem öffentlichen Wohl entsprechenden Abwägung zu gelangen, muß der Gesetzgeber auch den für ein so begründetes Gesetzesvorhaben maßgeblichen Sachverhalt entsprechend ermitteln. Hierzu ist erforderlich, daß hinreichend sichere Feststellungen, insbesondere über Ausmaß und Gewicht der Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der ersten Neugliederung, deren Ursachen und deren Bedeutung für die Entwicklung der örtlichen Gemeinschaft, aber auch über die Folgewirkungen, die mit einer Rück-Neugliederung voraussichtlich verbunden sind, getroffen und dem Gesetz zugrundegelegt werden. Der Gesetzgeber ist dabei gehalten, sich aufgrund verläßlicher Quellen ein eigenes Bild von den tatsächlichen Verhältnissen in der Gemeinde zu verschaffen, in deren Gebietsbestand er erneut eingreifen will; er darf sich nicht mit Berichten von interessierter Seite begnügen."<ref>BVerfG, Beschluss vom 12.05.1992 - 2 BvR 470/90; 2 BvR 650/9</ref>

Rechtsprechung

Publikationen

Siehe auch

Fußnoten

<references />